Flight, Fight, Tod - Burnout bei Pferden?

 


Pferde sind bekanntlich Fluchttiere. In für sie scheinbaren Gefahrensituationen unterscheidet ihr vegetatives Nervensystem nur zwischen Fliehen (Flight) oder Kämpfen (Fight). Dachte ich zumindest immer.

Wer kennt das nicht? Man reitet aus und das Pferd erschreckt sich vor einem Holzhaufen, der dort seit Jahren liegt und an dem es schon hunderte Male vorbeigegangen ist, ohne mit der Wimper zu zucken. In Folge flüchtet es vielleicht sogar, was für uns Reiter unangenehm werden kann. Zwar unterscheidet sich die Fluchtdistanz unserer heutigen Reitpferde (20-100m) im Gegensatz zu Wildpferden (150-1000m), jedoch können 100m im Sprint durchs Unterholz durchaus gefährlich werden.
Auch auf Reitplätzen, Turnieren oder anderen Veranstaltungen, in die Pferde mit eingebunden sind, kann man das Fluchtverhalten immer wieder gut beobachten. Häufig sind es jedoch keine natürlichen Situationen, die die Pferde zum Fliehen veranlassen. Klopfende Schenkel, Sporentritte, die unruhige und harte Hand des Reiters, Gerteneinsatz und noch vieles mehr sind für das Pferd Gefahrensituationen, in denen es flüchten müsste und es auch versucht. Man sieht plötzliches nach vorne Preschen, verzweifeltes nach hinten Ausweichen und hektisches zur Seite springen. Dass diese Situationen Auslöser für Stress sind, kann man sich leicht vorstellen. Stress wiederum bewirkt, dass Stresshormone wie Adrenalin ausgeschüttet werden. Alle überflüssigen Systeme werden runtergefahren, wie das Immunsystem und die Verdauung. Der Körper sammelt alle Energie kurzzeitig für den Kampf oder die Flucht.
Der Leser mit schneller Auffassungsgabe merkt, dass Langzeitstress, d.h. Stress, der nicht nur für ein paar Sekunden anhält, sich negativ auf den gesamten Körper auswirkt, allem voran auf das Immunsystem und den gesamten Verdauungstrakt. Folgen: Magengeschwüre, Koliken, nicht abklingende Infekte, schlecht heilende Wunden etc.
Dasselbe gilt auch, wenn das Pferd sich entscheidet zu kämpfen und nicht zu fliehen. Das sind dann die armen Geschöpfe, die bei viel zu vielen Reitern als unberechenbar oder als Pferd mit “starkem Charakter” gelten. Sie wehren sich mit allem, was ihr Körper hergibt: mit Steigen, Buckeln, Ohren anlegen, Schweifschlagen, Kopfschütteln bis hin zum aktiven Angriff auf den Menschen als letzten Akt der Verzweiflung. Soweit alles Fakten, die bekannt sind.

Was bleibt diesen Pferden, die ewig auf Unverständnis durch den Menschen treffen, anderes übrig, als irgendwann in den “Freeze”-Modus überzugehen:
In der Stressforschung im Humanbereich wird seit geraumer dieser Modus als eine dritte Reaktionsmöglichkeit bei Stress diskutiert. Kämpfen und Flüchten sind Reaktionen, die Hoffnung geben, einer gefährlichen Situation zu entkommen. Wird diese Hoffnung aufgegeben oder erscheint die Situation ausweglos, folgt die Freeze-Reaktion, die dem Sich-Tot-Stellen gleichgesetzt werden kann. Das “Opfer” ergibt sich der Situation und resigniert. Der Puls wird nachweislich heruntergefahren, Denken und Schmerzempfinden werden kurzzeitig ausgeschaltet. Auch hier sollte der Fokus auf “kurzzeitig” gerichtet werden. Hält dieser Modus über einen längeren Zeitraum an, sind Lethargie, Depressionen und Burn-Out mögliche Folgeerscheinungen. Meines Erachtens und meiner Erfahrung nach kann man dies 1:1 auf das Pferd übertragen.
Die Gefahr, wenn das Pferd erst einmal im Freeze-Modus angekommen ist, liegt auf der Hand: Der Reiter meint, dass das Pferd nun endlich verstanden hat, was er von ihm möchte und zufrieden zu sein scheint. Es wehrt sich nicht, es erschreckt sich nicht mehr, es vertraut dem Reiter nun offenbar endlich und zieht brav seine Bahnen auf dem Reitplatz und im Gelände. Eine Folgeerscheinung ist in vielen Fällen dann die Antriebslosigkeit: Das Pferd wird triebig, möchte sich am Liebsten so langsam wie möglich oder gar nicht bewegen und lernt neue Lektionen sehr langsam (siehe “Denken wird kurzzeitig ausgeschaltet”).
Man braucht auch gar nicht auf ein Turnier oder ähnliche Veranstaltungen zu fahren, um diese Beobachtungen zu machen. Ein Blick in die vielen Reitschulen unseres Landes genügt, um diese Verhaltensweisen, die Symptome des Freeze-Modus sind, beobachten zu können. Lethargische Ponies und Pferde, die stoisch ihren “Vordermännern” hinterherlaufen und an der Tête das eventuell einzige Pferd, das noch nicht aufgegeben hat.
Es gehört viel Zeit, Geduld, Kompetenz und auch einiges an Kosten dazu, diesen Pferden wieder ein Bewusstsein für sich selbst und ihren Körper zu geben. Sie müssen das Gefühl zurückgewinnen, dass der Mensch, der mit ihnen arbeitet, ihre Signale richtig deutet. Sie müssen wieder lernen zu lernen.
Wer als Mensch schon einmal in einer Depression steckte und /oder an Burnout erkrankt ist, weiß, dass der Genesungsprozess keine Sache von einigen Tagen oder Wochen ist. Was den Menschen allerdings vom Pferd unterscheidet: Er kann reden.
tag

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    david J Rodwell (Mittwoch, 06 November 2019 10:30)

    gilt, in Grunde genommen, für jedes Tier. Instinkt ist vorprogrammiert, auch für uns Menschen. Wollte nur wissen lassen, dass ich auch deine Beiträge, mit Interesse, auch verfolge